dinsdag 12 februari 2013

Arme

Sehr oft haben wir die Tendenz, nur dem Aufmerksamkeit zu schenken, was materiell und in Zahlen zu bemessen ist. So sind wir veranlasst, das Elend, das in dieser Gesellschaft vorherrscht, ausschliesslich aus einem Blickwinkel von materieller Armut, anders ausgedrückt, als Mangel an Geld zu betrachten. Doch der Kapitalismus beraubt uns nicht nur der materiellen Mittel, um so zu leben, wie es uns passt. Er zwingt uns nicht nur, zu arbeiten oder uns vor den sozialen Hilfsinstitutionen hinzuknien. Er auferlegt uns nicht nur, in einer Umwelt zu überleben, die von der Industrie verseucht, durch ihre Produktion von unnützen und schädlichen Objekten vergiftet und durch ihr grossartiges nukleares Instrument verstrahlt ist, das, angesichts der Risiken und Katastrophen, die es mit sich bringt, alle vom Staat und seinen Spezialisten abhängig macht. Nein, es ist nicht nur das.

Was vielleicht noch schlimmer ist, als die materielle Verarmung, ist das emotionale Elend, das in dieser Gesellschaft vorherrscht und von der Gesamtheit der sozialen Verhältnisse generiert wird, die dieser Welt das dreckige Gesicht geben, das sie hat. Wir machen eine Depression nach der anderen durch, wir erleben einen Selbstmord nach dem anderen, wir leben in Verhältnissen und Beziehungen, die voller Misstrauen, Konkurrenz, Gewalt und Heuchlerei sind. Die vielfältigen Drogen verhüllen uns für einige Momente die hässliche und brutale Realität. Unsere Träume und Verlangen gehen nicht über den tristen Horizont des Bestehenden hinaus: das Abenteuer, das Unbekannte, die Leidenschaft… werden verbannt und man kann sie nur per procura erproben (Filme, Videospiele,…) Die Tristheit fesselt uns ebenso sehr, wie der Schatten der Gefängnisse, die Schinderei der Jobs, der Bedarf an Geld.

Diese Welt hat sogar eine ganze Palette an „Heilern“ und „Heilmitteln“ für dieses weniger „sichtbare“, mehr intime Elend erfunden. Von Psychiatern zu Psychologen, von Drogen zu Antidepressivas, von „Ventil“-Momenten wie der Samstagabend in der Disco oder dem Fussballmatch am Tag darauf zum Anschein eines erlebten Glücks als Zuschauer hinter einem beliebigen Bildschirm (interaktiv wie das Internet oder passiv wie das Fernsehen)… auf dem affektiven und emotionalen Elend ist ein ganzer Markt errichtet worden. Dennoch, noch weniger als für das materielle Elende, wird dafür kein „Heilmittel“ jemals genügen. Die Tristheit kommt immer wieder zurück, sie klammert sich an den Menschen fest, sie verfolgt sie und jagd sie…

Doch es gibt auch etwas anderes. Von der Macht gut verhüllt, von der Gewohnheit gut auf Distanz gehalten, von der sozialen Ordnung.gut erstickt. Es ist nicht ein Ausweg, es ist nicht ein definitiver Abschied von der Tristheit, sondern ein Anfang: von dem Moment an, wo wir entscheiden, nicht mehr zu erdulden, sondern zu handeln; nicht mehr zu resignieren, sondern zu revoltieren; uns nicht mehr dahinzuschleppen, sondern zu leben, beginnt die Tristheit dahinzuschmelzen. Indem wir uns auflehnen, machen wir nicht nur einen offensiven Schritt gegen das, was uns erstickt und unterdrückt, sondern vielleicht viel wichtiger, erobern wir die Freude am Leben, die Heiterkeit der Beziehungen zwischen komplizenhaften Aufständischen, die Freimütigkeit und den Wagemut in dem, was wir denken und dem, was wir tun. Denn das „Glück“ liegt nicht in der Anhäufung von Geld, in der Ausübung von Macht über andere, in irgendeinem Jenseits, sondern beispielsweise in der süssen Kohärenz zwischen dem, was wir denken, und dem, was wir tun. Die Tristheit kommt von der Tatsache, dass wir uns nicht mehr wiedererkennen, wenn wir uns im Spiegel betrachten, uns direkt in die Augen schauen. Dass die Freigiebigkeit unseres Wesens, unserer Gedanken, unserer Akte vom Misstrauen, vom Rückzug und vom Abstand ersetzt wurde. Dass unser Leben keinen Sinn zu haben scheint, da ihn uns diese Welt niemals geben wird. Dass wir nicht mehr versuchen, die Fähigkeit zu erobern, unseren Leben selbst ihren Wert zu geben.

Im Grunde liegt der ganze Reichtum unserer Leben hier, direkt vor unseren Augen. Es reicht, die Arme auszustreken, die mit Überzeugung, Ideen und Freiheit bewaffneten Arme. Die Anstrengung der Freiheit, die Revolte gegen eine sinnentleerte Existenz ist es, womit wir die Finsternis aus unseren Herzen jagen werden.

[Übersetzt aus der Zeitschrift Hors Service, Brüssel, nr. 27, 20. März 2012]


Translation of "Pauvres", Hors Service 27, 20 march 2012